Meinung: Es braucht “New Switzerland”

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Von Ruedi Noser, erschienen am 30.7.2016, Schweiz am Sonntag

1845 gründeten 150 Auswanderer aus dem Glarnerland, meinem Geburtskanton, New Glarus in Wisconsin (USA). Sie waren gezwungen, in eine neue Welt aufzubrechen. Ich bin stolz auf meine Vorfahren: Wer eine solche Reise ins Unbekannte macht, auch wenn die Not gross ist, muss mutig sein. Diese Leute waren die Opfer der ersten industriellen Revolution, die Handweber und Spinner überflüssig machte. Sie wurden durch Webmaschinen und Spinnmaschinen ersetzt. Textilfabriken sprossen im 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden. Trotzdem blieb die Schweiz ein Auswanderungsland, denn die Technologie der Textilindustrie wurde importiert; man wendete sie an, und sie schuf wenig Arbeitsplätze. 1880 arbeiteten 63 Prozent aller Industrie-Erwerbstätigen in der Textilbranche, 40 Jahr später  waren es noch 22 Prozent. Trotz vielen Einzelschicksalen blieb die ganz grosse Katastrophe aus, wie wir sie rund 100 Jahre früher erlebt haben. Sie blieb nicht nur aus, die Schweiz wurde in dieser Zeit gar vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland. Parallel zu dieser schicksalhaften Wirtschaftsgeschichte entstand unsere ETH. 1855 wurde sie gegründet, 1886 das Chemie- und 1890 das Physikgebäude, dann 1900 das Maschinenlabor in Betrieb genommen. In der Folge entwickelte sich die Chemie- und Maschinenindustrie. Die Schweiz wandelte sich von der Produktions-Anwenderin zur Produktions-Entwicklerin. Unternehmerisch gesprochen: Die Investition in die Elitenbildung von der ETH zahlte sich aus. Hatte die Schweiz die erste industrielle Revolution noch verpasst und wurde in der Folge komplett von England dominiert, war man für die zweite industrielle Revolution gewappnet.

Heute stehen wir mit der Digitalisierung an einer ähnlichen Wegscheide wie im 19 Jahrhundert. Es gibt in der IT etwa 200 000 Fachkräfte. Wie damals in der Textilindustrie sind die meisten von ihnen Anwender dieser Technologien, die nicht aus der Schweiz stammen, ja auch nicht aus Europa. Obschon viele bahnbrechende Erfindungen im Bereich der Digitalisierung hier stattgefunden haben, verloren wir in den 70er- und 80er-Jahren die ganze Computerindustrie und in den 90er- und 2000er-Jahren die gesamte Telekommunikation. Profitiert haben in erster Linie die USA. Heute muss man konstatieren, dass Europa und die Schweiz die erste Halbzeit der Digitalisierung verloren haben. In der zweiten Halbzeit geht es nun um den Wettbewerb der Wertschöpfung und damit um nichts weniger als unseren Wohlstand. Und wir sind mannigfaltig gefordert.

Zuerst müssen wir als Gesellschaft verstehen, was die Digitalisierung wirklich alles verändert. Wenn man im 20. Jahrhundert eine Firma aufbauen wollte, musste man Kapital, Boden und Arbeitskräfte haben. All das war zum einen knapp, zum anderen – wenn man es denn hatte – wurde es sofort besteuert. In der Digitalisierung gelten andere Regeln. Während man im 20. Jahrhundert mit einer Idee ohne Kapital nichts erreichen konnte, gilt jetzt, dass du mit Kapital ohne die richtige Idee nichts erreichen kannst.

Und gerade unsere Kultur wird dadurch fundamental herausgefordert. Überragendes und Elitäres ist uns fremd, Ideen, wenn nicht x-fach abgesichert, suspekt. Wer eine Idee erfolgreich realisiert, wird beneidet, wer scheitert, ist out. Das Geheimnis des Silicon Valley, so sagt man, ist unter anderem die Art und Weise, wie man dort mit dem Scheitern umgeht: «Toll, dass du es versucht hast!» Unser Wille zur Perfektion und unsere intolerante Fehlerkultur stehen der digitalen Kultur zuwider.

Neben der kulturellen besteht für uns eine institutionelle Herausforderung. Mit der Vermögenssteuer haben wir den Neid in unserem Staatsgebilde buchstäblich institutionalisiert: Die Schweiz ist das einzige Land, das Ideen besteuert, bevor sie überhaupt einen Gewinn erzielen. Und die Vermögenssteuer verhindert oft, dass ein Einzelner eine grosse Firma besitzen kann. Wenn die Digitalisierung aber das Jahrhundert der Ideen ist, dann muss es möglich sein, dass Menschen mit ihren Ideen grosse Firmen aufbauen und auch besitzen können, ohne dass der Fiskus sie enteignet.

Die zweite industrielle Revolution hat die Schweiz stark gemacht, weil wir nach der ersten in die Elitenbildung investiert haben. Seit damals haben wir sehr viel in die Breitenbildung investiert. Wir sind vermutlich das Land, in dem jeder Jugendliche die Chance hat, die optimale Ausbildung zu bekommen, mit der er am besten durch das Leben kommt. Jedenfalls weit besser als in den USA. Diese breite Ausbildung bietet uns die Chance, kombiniert mit den richtigen Talenten auch bei der digitalen Revolution zu den Gewinnern zu gehören. Verlangt wird aber, dass wir die Voraussetzungen schaffen, damit diese Talente in der Schweiz bleiben oder wie vor 150 Jahren in die Schweiz kommen. Darum braucht es eine Initiative im Bundesrat, die prüft, was zu machen ist, damit wir diese Talente haben und auch behalten können. Es braucht keine Industriepolitik dazu. Eine richtige Bildungspolitik, die die Schweiz zum digitalen Hub von Europa macht, und eine Steuerpolitik, die wieder Unternehmertum im grossen Stil zulässt – das würde als Rahmenbedingungen reichen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir Mut bewiesen. Auch heute brauchen wir wieder Mut und einen grossen Effort. Weniger aus der Not, wie damals die Glarner, die auswanderten, um New Glarus zu gründen. Wir brauchen den Mut, die richtigen Entscheide zu treffen, damit in der Digitalisierung ein New Switzerland entstehen kann – und zwar hier bei uns und nicht im Silicon Valley, in das unsere Talente auswandern. Die Schweiz muss mit ihrer Kultur die Digitalisierung prägen wollen. Wir können sie nicht nur den US-Konzernen überlassen, wir müssen solche Konzerne in die demokratische Schweiz holen. Es braucht mehr als die 150 Auswanderer, um New Switzerland zu schaffen. Darum: Machen Sie dort mit, wo Ihr Beitrag verlangt wird. Werden Sie ein Teil von NewSwitzerland.org.